34 Jahre ist es nächste Woche schon wieder her, als sich die Mauer auftat und wir wieder unsere Brüder und Schwestern drüben im Jenseits, also jenseits der Mauer, besuchen und herzen konnten. Allzu lange hielt das mit der Herzerei nicht an. Wir fielen dort in die Konsumtempel ein und das Westvolk hier über unsere Betriebe her. Den Drübigen konnte es nicht schnell genug gehen, sich das hiesige Volkseigentum unter den Nagel zu reißen. Und dem Ostvolk mit der Einheit. Die aber erst dann vollzogen ist, wenn der letzte Ossi aus dem Grundbuch raus ist. Das Ostvolk war völlig vereinigungsgeil: kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr! Es war so fickerig und im Liebesrausch, dass es nicht nachdachte, was der schnelle Akt der Vereinigung mit sich bringt. Nicht nur Gutes. Es war wie eine Krankheit: wir haben uns alle übergeben und manchem kam dann das Kotzen an. Wir hatten nur die blühenden Landschaften im Auge. Die dann vielerorts auch erblühten. Aber wir sahen nicht kommen, was uns sonst noch alles blühen würde. Mit der Mauer fielen alle inneren Grenzen. Statt zu prüfen, ob wir uns für ewig binden wollen, sind wir in die gesamtdeutsche Ehe gestolpert wie die Schafe zum Schlächter. Aber keinem soll es schlechter gehen, hatte Birne Helmut getönt. Die Schafe werden getrieben, aber wir haben uns selbst getrieben: Brüder, zur Sonne, in den Westen zur Freiheit! Freiheit, was auch immer das ist. Jedenfalls wollten wir mehr Freiheit. Freiheit kommt ja vom altgermanischen Verb freien. Was so viel heißt wie um Liebe werben. Hat der Westen um uns geworben oder haben uns ihm freiweg an den Hals geschmissen? Hatten wir auch die Freiheit, nein zu sagen? Im Westen kann jeder frei sein, wie es ihm beliebt und frei reisen. Aber auch dafür braucht es frei verfügbare finanzielle Mittel. Und da im Osten bald viele frei von Arbeit und Lohn waren, war die ersehnte Reisefreiheit in der freien Marktwirtschaft auch nicht für alle zu erreichen. Aber die Gedanken sind frei, was man alles tun könnte, wenn man könnte.
Was macht ein Freier? Ein Freier freit. Und dann ist da einer oder meist eine, die oder der gefreit wird. Für die, die gefreit wird, und das waren wir Ossis, war es wie in vielen Ehen: für die einen ist es meist hinterher vorbei mit der Freiheit. Dort sind die Ge-freiten nicht mehr frei. Sondern angeschlossen. So war das auch mit der deutsch-deutschen Ehe. Der Osten hatte keine Freiheit, über sich selbst zu bestimmen. Er war angeschlossen. Und eine Scheidung war ausgeschlossen. Eine Ehe wird ja auch nicht etwa eröffnet, sondern gleich geschlossen. Eine Liebesheirat war es sowieso nicht. Eher eine Schein-Ehe, denn der Westen rückte die Scheinchen rüber. Dieser Schein ist es, der die Mittel heiligt, und so bestimmt seitdem auch der Westen meist über uns. Es geht uns dabei zwar nicht so schlecht, aber wir mussten uns schon bei vielen Dingen eingestehen, wir haben uns beim Trauen vertan, uns zu viel ver-traut mit den Brüdern und Schwestern von drüben. Aber sowas von! Von einer Vertrautheit ist im deutschen Lande nicht mehr so viel zu spüren. 34 Jahre nach dem Mauerfall. Und überhaupt.