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Mittwoch, November 29, 2023
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Theater unterm Sternenzelt

Frank Selbitz streift als Nachtwächter mit Gästen, 
aber auch ganz alleine durch Lübben – und niemand wundert sich

Die Dämmerung hat sich über den Marktplatz von Lübben gelegt. Die Kirchturmuhr steht auf kurz nach neun. Auf den Rathaustreppen haben sich ein paar Frauen und Männer bereits zu Karfreitag zu einem recht ungewöhnlichen Osterspaziergang verabredet. Sie vertreten sich die Füße, um gegen die Kälte des Aprilabends anzukämpfen. „Sonne, Licht und Osterglocken genießen kann jeder“, sagen sie im dunklen Schatten des Rathausgiebels. Aus dem tritt plötzlich eine von Kopf bis Fuß in schwarz gehüllte Gestalt mit Hellebarde, breitem Krempenhut und langem Lodenmantel ins matte Licht der Straßenlaternen und hebt zu einem monotonen Singsang an:. „Hört Ihr Herrn und lasst Euch sagen, die Glocke hat schon neun geschlagen. Neun vergaßen Dank und Pflicht, Mensch, vergiss die Wohltat nicht.“ Der Mann zündet seine Handlaterne an und hält sie den wartenden, frierenden Menschen entgegen, so als wolle er ihnen mit seinem Kerzenlicht ein wenig Wärme spenden. Die Leute schmunzeln.

Frank Selbitz hat die Bühne seines „Theaters unterm Sternenzelt“ betreten. So nennt der 59jährige pensionierte Lehrer aus Steinkirchen – einem Ortsteil von Lübben – seine Nachwächterauftritte, die mittlerweile so selbstverständlich zur Stadt gehören wie die Kanäle der Spree und die Türme von Kirche und Schloss. In diesem Jahr feiert er 25jähriges Jubiläum, damit ist er der dienstälteste Hüter der Nacht in Ostdeutschland. Weit über 1000 Rundgänge sind es schon geworden, mit denen er jeweils zwischen Ostern und Erntedankfest im Oktober Einheimische und Spreewaldbesucher zur Nachtschwärmerei in die Lübbener Altstadt einlädt.

In Lübben hat es rund 500 Jahre lang höchst offiziell Nachtwächter gegeben. Eine erste urkundliche Erwähnung verweist auf das Jahr 1436. 1918 wurde das Amt abgeschafft. Der Beruf entstand, als sich im Mittelalter die Städte herausbildeten. Der Nachtwächter lief zunächst als „lebender Feuermelder“ durch Straßen und Gassen. Er übernahm auch polizeiliche Aufgaben wie das Dingfestmachen von Dieben oder von nächtlichen Störenfrieden. Der Beruf galt in der Regel als „unehrenhaft“. Nachtwächter gehörten zum untersten Stand der Gesellschaft. Wohlhabende Städte wie zum Beispiel auch Luckau leisteten sich aber auch besser dotierte Nachträthe, die auf eine gewisse Bildung und nicht selten auch auf eine militärische Laufbahn verweisen konnten.

„Was gleicht wohl auf Erden dem Wächtervergnügen, mit Horn und Laterne zu durchziehen die Nacht …“ fragt der zu dieser späten Stunde ganz und gar muntere Stadtführer Frank Selbitz seine Gäste, um gleich selber die Antwort zu geben: Nichts! Dann nimmt er sie mit nimmer endenden, selbst verfassten Versen, mit ernsten und heiteren Geschichten mit auf eine höchst amüsante Runde zwischen Stadtmauer, Renaissanceschloss und Marktplatz. Mit wehendem Mantel streift der hochaufgeschossene Stadtpoet die große Geschichte der markanten Gebäude und die kleinen Geheimnisse der verwunschenen Winkel, die allein der Schein seiner Handlaterne zu erhellen vermag.

So wandeln die Nachtwanderer im Schlepptau von Frank Selbitz nicht nur mit Paul Gerhard, Napoleon und dem deutschen Kaiser übers Pflaster. Sie kreuzen auch die Wege von leidgeprüften Wirtsleuten, zupackenden Badefrauen und eitlen Ratsherren. Zwischendurch stärkt sich das Gefolge an einer Gurken-Wegzehrung in einer dunklen Gasse am Spreewaldfließ und bei einem kleinen Umtrunk in einer der Wirtschaften, vor der der Bürgersteig noch nicht hochgeklappt ist. Aber wenn denn die Stadtuhren von den Türmen herab die nächste volle Stunde vermelden, dann lässt der Nachtwächter von allen Abschweifungen ab und waltet seines Amtes: 
„… Hört Ihr Herrn und lasst Euch sagen, die Glocke hat jetzt zehn geschlagen. Zehn Gebote lehren wohl, wie vor Gott man wandeln soll …“

Frank Selbitz betreibt sein Hobby durchaus mit ­Ernsthaftigkeit, ohne sich allerdings selber zu ernst zu nehmen. „Ich habe damit begonnen, als ich noch aktiver Fußball-Schiedsrichter war“, erzählt er mit breitem Grinsen im Gesicht. „Kein Spieler und kein Zuschauer konnte mir mit Nachtwächter-Schimpfworten noch etwas anhaben.“ Allmählich wurde aus einer spontanen Laune anlässlich eines Stadtfestes, bei dem er zum ersten Mal in die Rolle der historischen Figur schlüpfte, wirklich so etwas wie eine Berufung. Er vertiefte sich in die Literatur und begann, sich seinen eigenen Reim aufs Lübbener Nachtleben zu machen. Er perfektionierte sein Outfit mit Hellebarde, Hut und Horn sowie den vier wichtigsten Schlüsseln der Stadt – zu Stadttor, Rathaus, Kirche und den Frauen. Er genoss es, auch ganz allein durchs Städtchen zu ziehen und seine Verse vor sich her zu murmeln. „Die Stadt atmet förmlich auf, kein Lärm, kein Verkehr quält sie“, sagt er ohne jeglichen Schalk, „ich mag es, ungestört in sie hinein horchen zu können.“ Er knüpfte Kontakte zu „Kollegen“ in Deutschland und Europa, organisierte Zünftetreffen und Ausstellungen.

Endgültig zur städtischen Autorität wurde er, als er vor gut zehn Jahren die Nächtwächterstube „Trutzer“ in einem Stadtmauerturm einrichtete, wobei ihm die Lübbener mit vielen Geschenken wie historischem Mobiliar, Kerzenleuchtern, Skulpturen und Stadtansichten ihre Ehre bekundeten.

Es ist spät geworden. Die Lichter der Stadt werfen den langen Schatten einer merkwürdigen Gestalt aufs Pflaster. Aber man muss keine Angst vor ihm haben. Und es wundert sich auch niemand. Die, die noch draußen unterwegs sind im stillen Örtchen, rufen: „Ach, unser Nachtwächter arbeitet noch!“ Ein friedfertiger Singsang halt ihm nach: „Hört Ihr Herrn und lasst Euch sagen, die Uhr hat elf geschlagen, elf der Jünger blieben treu, der zwölfte trieb Verräterei …“

TM

Zu Fuß und mit dem Kahn

Bis zu drei Mal pro Woche schaut der Nachtwächter nach Einbruch der Dunkelheit in der Kreisstadt Lübben nach dem Rechten. Er ist auch mit dem Kahn auf den Spreewaldfließen unterwegs und bietet Dorfspaziergänge durch Schlepzig an. Kontakt und Termine  auf www.spreewaldnachtwaechter.de. In vielen Städten Deutschlands und Europas ist die Figur des Nachtwächters als touristisches Zugpferd wieder belebt worden. So gehören derzeit der Europäischen Nachtwächter- und Türmerzunft rund 160 Stadtoriginale aus 11 Ländern an. In Deutschland hält außerdem die „Gilde Bund Deutscher Nachtwächter, Türmer und Figuren“ die Tradition wach. Im Land Brandenburg drehen zum Beispiel auch in Altlandsberg, in Beeskow, in Luckau, in Spremberg, in Storkow und in Vetschau Nachtwächter ihre Runden.

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