Manchmal kommt man auf seltsame Gedanken. Wie ich dieser Tage. Ich bin beim Birnenpflücken, habe ein wahres Prachtexemplar dabei – und bei dessen Anblick denke ich: Wir haben doch am 3. Oktober den Jubiläums-Einheitstag. Weshalb gibt es eigentlich kein Kohl-Denkmal? Gerade jetzt, wo sein einstiges Mädchen, die Merkelin, ihn wieder auffällig oft lobt. Zum Beispiel könnte Helmut anstelle der Goldelse auf der Siegessäule am Großen Stern in Berlin thronen. Das würde passen: Siegessäule, den Arm in Feldherrenmanier gen Osten gereckt, im güldenen Glanze. Und vielleicht eine Endlos-Lautschleife über Lautsprecher: „Zu den blühenden Landschaften des Ostens!“ Aber wenn dann einer fragt, wo geht’s denn hier zum Aufschwung Ost, dann würde bestimmt jemand sagen: Da drüben, immer den Bach runter!
20 Jahre ist es jetzt her, dass der Einigungsvertrag unterschrieben wurde. Jenes deutsch-deutsche Vertragswerk, das damals Wolfgang Schäuble in Gestalt des Günther Krause quasi mit sich selbst abschloss. Und uns nach Mauer, Stacheldraht, Einheitspartei und Nachttopfpflicht in den Kinderkrippen endlich Demokratie brachte. Das System, das uns laut Gerorge Bernhard Shaw garantiert, dass wir nur so gut regiert werden, wie wir es verdienen. Und wie heißt es in der Werbung: Das haben wir uns verdient. Wie unsere Senioren die Rente. Die fragen immer wieder, ob die denn sicher sei und der Bundesrentenminister antwortet auch, dass die sicher sei. Er meint zwar die der der Politiker. Aber das soll ja auch für Otto Normalo gelten. Also im Prinzip. Doch nicht die Rente an und für sich ist unsicher, sondern nur ihre Höhe. Irgendwie wird sie uns schon erhalten bleiben, auch wenn sie in absehbarer Zeit einer finanziellen Sterbehilfe gleichen wird.
Aber wir wollen ja nicht meckern im Rückblick auf 20 Jahre Einheit. Es war nicht alles schlecht. Und es ist nicht alles gut. Nach einer Studie hat sich der ostdeutsche Lebensstandard seit der deutsch-deutschen Kopulation deutlich erhöht. Zwar nicht so schnell wie erwartet, aber „ man sei den Zielen schon recht nahe gekommen“. Und hat immer wieder dran vorbeigeschossen, würde ein Jäger sagen. Vor 20 Jahren lagen die Ost-Gehälter bei 57 Prozent des West-Niveaus, heute bei 83 Prozent. Sofern man Arbeit hat.
Aber zurück zum Einheits-Kanzler: Er hatte uns ja prophezeit, dass uns was blüht, also dass wir blühende Landschaften kriegen werden. Halten wir ihm das doch nicht immer wieder vor. Die Blüte – das ist der schöne Schein – und davon bekommen wir ja genug. Doch es geht um die Ernte. Man muss ja nicht Gärtner sein, um zu wissen, dass nicht auf jede Blüte eine Ernte folgt. In meinem Garten hat der Apfelbaum diesjahr auch prächtig geblüht, aber die Äpfel sind fast alle madig. Und so werde ich welche aus dem Alten Land kaufen, denn welche aus dem Werderaner Obstanbaugebiet gibt es ja nicht mehr. Da hat es sich ausgeblüht.
Reden mit blühender Sozialromantik über das nunmehr 20-jährige Wachsen des deutschen Einheitsbabys werden in den nächsten Tagen über uns kommen wie der Regen in den letzten Tagen. Gewaltige Massen schillernder Politiker-Sprechblasen werden zischend in die Luft entweichen. Das Ozonloch über Berlin wird größer werden.
Egal. Stimmen wir ein, schunkeln wir im Einheits-Stadl mit:
„Es grünt. Es blüht. Die Sonne lacht.
Kein Glatteis mehr, kein Schnee, kein Frost.
Das hat der Kanzler Kohl gemacht.
Das ist der Aufschwung Ost.“
Prost! In diesem Sinne: Vereinigen Sie sich schön. Und überhaupt.
Mark Brandenburger
Ange(mark)t Vom Blühen und Ernten